Medizin: Zwischen Chancen, Ethik und Finanzierbarkeit

Medizin: Zwischen Chancen, Ethik und Finanzierbarkeit
Medizin: Zwischen Chancen, Ethik und Finanzierbarkeit
 
»Gesundheit ist der größte Reichtum«, weiß der Volksmund. Dass dies den meisten Menschen erst dann schmerzlich bewusst wird, wenn sie mit einem schweren Leiden daniederliegen, ist eines der größten Hindernisse für eine erfolgreiche Krankheitsprävention. Die Deutschen geben 10,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für ihre Gesundheit aus und bewegen sich damit im Mittelfeld der westlichen Industrieländer, wo sich überall in den letzten Jahren ein Trend zur staatlich verordneten Kostenreduktion abzeichnet. Einige Ärzte bestreiten, dass es unter einem derartigen Sparregime möglich ist, die Patienten auch weiterhin optimal zu versorgen und weisen bereits auf eine schleichende Rationierung hin. Unter anderem könnte dies dazu führen, dass viele intensivmedizinische Maßnahmen nur noch für jüngere Patienten zur Verfügung stehen. Bei alten Menschen wird sich die ärztliche Versorgung darauf konzentrieren, deren Selbstständigkeit bestmöglich zu erhalten. Die mittlere Lebenserwartung wird weiter ansteigen, die biologische Altersgrenze von etwa 120 Jahren aber lässt sich nach Meinung von Experten allenfalls durch massive Eingriffe ins Erbgut oder den Einsatz lebensverlängernder Maschinen überwinden.
 
 Vorbeugung ist gut
 
In allen Teilen der Welt befinden sich die traditionellen Gesundheitsfeinde wie die Erreger von Infektionskrankheiten und Unterernährung auf dem Rückzug. Auch in den Entwicklungsländern haben sich dagegen nicht übertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Leiden und Krebs, aber auch Depressionen sowie Unfälle und Verletzungen durch Gewaltanwendung in der Liste der häufigsten Ursachen von Tod und Behinderung etabliert. Präventionsmaßnahmen zum Schutz vor Volkskrankheiten wie Herzinfarkt, Bluthochdruck oder Diabetes sind zwar prinzipiell möglich. Für die Mehrzahl der Betroffenen erweisen sich aber die damit verbundenen Forderungen nach gesünderer Ernährung und mehr Bewegung als eine unüberwindliche Herausforderung.
 
Noch schwerer fällt Rauchern der Verzicht auf Zigaretten, obwohl aktuellen Schätzungen zufolge jeder zweite seine Sucht mit dem Leben bezahlen wird. Der Tabakgenuss forderte 1999 weltweit etwa vier Millionen Todesopfer und wird, wenn der gegenwärtige Trend anhält, im Jahr 2030 rund 10 Millionen Menschen unter die Erde bringen. Die langfristigen Folgen des Zigarettenrauchens, so die Vorhersage der Weltgesundheitsorganisation (WHO), werden schon bald mehr Schäden verursachen als jede andere Krankheit. Leider, so beklagt WHO-Chefin Gro Harlem Brundtland, verhindert ein Mangel an »globaler Führungskraft« vielerorts die Umsetzung von erwiesenermaßen erfolgreichen Kontrollstrategien wie Steuererhöhungen, Werbeverboten und Aufklärungskampagnen.
 
Zyniker verweisen auf die 20 Milliarden Mark Steuereinnahmen, die Raucher jährlich nur in die deutschen Staatskassen spülen, und auf den entlastenden Effekt des Zigarettenkonsums für die Rentenkassen: Ein Großteil der Raucher verstirbt nach lebenslangen Beitragszahlungen um das 65. Lebensjahr, ohne seine Versorgungsansprüche realisieren zu können. Trotzdem forderten 1999 in einer Erhebung immerhin 55 Prozent der befragten US-Bürger, dass Raucher höhere Versicherungsprämien zahlen sollten als Nichtraucher. Erstere dürfen also ebenso wenig auf die Sympathie ihrer Mitbürger hoffen wie Suchtopfer und Patienten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen oder auch stark übergewichtige Menschen.
 
 Lobbyarbeit für das Überleben
 
Krankheiten, die das Denkvermögen und die Gefühlslage beeinträchtigen, die massive Stimmungsschwankungen verursachen oder zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen zwingen, erfahren trotz ihrer weiten Verbreitung in der Bevölkerung verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit. Misst man aber die Bürde dieser Leiden in der epidemiologischen Standardwährung DALY — diese Einheit bezeichnet die Anzahl verlorener Jahre an krankheitsfreier Lebenszeit —, so verursachen neuropsychiatrische Erkrankungen rund ein Viertel der Gesamtlast, und zwar mit steigender Tendenz.
 
Im Nachteil befinden sich Depressive und Schizophrene, Suchtkranke oder Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten auch deshalb, weil es ihnen schwer fällt, ohne fremde Hilfe auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Im Verteilungskampf um die knapper werdenden Geldmittel für das Gesundheitswesen laufen sie daher Gefahr, den Kürzeren zu ziehen. Erfolgreich werden dagegen diejenigen sein, die sich nach dem Vorbild der US-amerikanischen HIV-Infizierten und Aidspatienten organisieren, um politischen Druck auszuüben. Der staatliche Forschungsetat für diese Infektionskrankheit in den USA wuchs seit Beginn der 1980er-Jahre rasant auf 1,7 Milliarden Dollar für das Jahr 1997 an — gegenüber umgerechnet 20 Millionen Dollar in Deutschland. Nur 15 Jahre, nachdem sich Forscher auf die Namen für Seuche und Erreger geeinigt hatten, konnte Harold Varmus, Leiter der Nationalen Gesundheitsinstitute in den USA, den Rückgang der Todeszahlen bekannt geben — für ihn eine »logische Folge wissenschaftlicher Entdeckungen und Tests, die zur Entwicklung wirksamer antiviraler Arzneien führten«.
 
Erst allmählich schließen sich auch in Europa Patientenverbände nach dem Vorbild der US-Aktivisten zusammen. Sie können dabei auf Daten verweisen, die beispielsweise einen Zusammenhang zwischen den Gesamtausgaben im Gesundheitswesen und den Überlebenschancen von Krebskranken nahe legen. Am besten ergeht es demnach Tumorpatienten in den Vereinigten Staaten, wo 12,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts in das Gesundheitswesen fließen, am schlechtesten den krebskranken Briten, wo der Vergleichswert 6,9 Prozent beträgt. Betrachtet man die Fünfjahresüberlebensraten beim Brustkrebs, so fällt auf, dass die besten Resultate mit 82 Prozent in den USA erzielt werden. Dagegen erreicht Deutschland nur 68 Prozent und Großbritannien 63 Prozent. Gravierende Unterschiede finden sich auch beim Darmkrebs, wo fünf Jahre nach der Diagnose noch 60 Prozent der US-Amerikaner am Leben sind, aber nur 48 Prozent der Deutschen und 36 Prozent der Briten.
 
 Länger leben oder nur länger leiden?
 
Auf einer Fachtagung beklagt ein bekannter Kardiologe im Vortrag die Stagnation in seinem Fachgebiet. Kommentar aus dem Auditorium: »Woran sollen die Menschen denn sonst sterben, wenn nicht an Herzinfarkt und Schlaganfall?«
 
Die zynische Bemerkung illustriert ein medizinisches Dilemma ohne Ausweg: Wo immer eine Krankheit zurückgedrängt oder gar ausgerottet wird, treten andere Leiden entsprechend häufiger auf. Der lebensrettende Eingriff nach dem ersten Herzinfarkt erhöht zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Patient nun an Krebs erkrankt. Gelänge es, den Tabakkonsum zu verringern, würde nicht nur die Lebenserwartung steigen, auch die Todesursachenstatistik würde sich verschieben; Krebsfälle nähmen ab, neurologische Leiden wie die Alzheimer'sche Krankheit würden vermutlich häufiger auftreten. Wissenschaftler hoffen, den Ausbruch dieser Hirnerkrankung mit Medikamenten um durchschnittlich fünf Jahre hinausschieben zu können und prüfen dafür unter anderem Vitamin E, Aspirin und Östrogen. Sollten sie damit Erfolg haben oder gar einen Weg finden, die Krankheit zu heilen, schwingt das Pendel zurück und beschert wiederum den Kardiologen eine neue, nun erheblich ältere Klientel.
 
Aller Voraussicht nach dürfen Mädchen, die im Jahr 2020 in den westlichen Industrieländern das Licht der Welt erblicken, eine Lebensspanne von fast 88 Jahren erwarten. Zur gleichen Zeit geborenen Knaben prognostizieren die Experten nur vergleichsweise bescheidene 78 Jahre. Schon jetzt steht fest, dass diese Entwicklung einen enormen Anstieg von Krebs und Herz-Kreislauf-Leiden, Schlaganfällen, Alzheimer'scher und Parkinson'scher Krankheit mit sich bringen wird. Vermutlich wird sogar die gesamte Gruppe der neuropsychiatrischen Leiden zunehmen. Die Behandlungskosten hierfür werden steigen und die Heilerfolge womöglich geringer sein als bei den seltener werdenden Infektionskrankheiten.
 
Dies wirft die beunruhigende Frage auf, ob sich die Menschen ihre steigende Lebenserwartung nur mit zusätzlichen Jahren der Pflegebedürftigkeit und des Siechtums erkaufen werden. In der Analyse bundesdeutscher Daten kommt der Statistiker Gunter Brückner zu dem Schluss, Männer und Frauen könnten davon ausgehen, »mehr als 90 Prozent ihrer Lebenserwartung in einem Gesundheitszustand zu verbringen, der sie in ihren täglichen Aktivitäten nicht einschränkt, und zwischen 80 und 85 Prozent in einem Gesundheitszustand, den sie selbst als zufrieden stellend oder besser einschätzen.«
 
Als Indiz der Skepsis mag die hohe Akzeptanz der Sterbehilfe gelten. Sie kommt nicht nur in freizügigen gesetzlichen Regelungen wie etwa in den Niederlanden zum Ausdruck, sondern auch in Meinungsumfragen. Sieben von zehn Österreichern sind dafür, dass »schwer kranke Menschen das Recht haben sollen, auf ihren eigenen ausdrücklichen Wunsch Sterbehilfe zu erhalten«, so das Ergebnis einer Umfrage des Linzer Spectra-Instituts. In Deutschland befürworteten dies in vergleichbaren Befragungen aus den Jahren 1997 und 1998 jeweils 42 Prozent der Ärzte und der Allgemeinbevölkerung.
 
 Der Traum von ewiger Jugend
 
Optimistischer als die Deutschen blicken vor allem US-amerikanische Biomediziner in die Zukunft. Die »regenerative Biologie« und die Nutzung genetisch veränderter Stammzellen werde zwischen 2050 und 2100 einen Stand erreichen, der es erlaubt, abgenutzte Organe wie Herz, Lunge, Leber und Gehirn zu erneuern, glaubt etwa William Haseltine, Leiter der Firma Human Genome Sciences, die maßgeblich an der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts beteiligt ist. Sein schwärmerisches Zukunftsbild: »Zum ersten Mal können wir uns menschliche Unsterblichkeit vorstellen.«
 
Völlig undenkbar ist Haseltines Vision nicht. Bei Fruchtfliegen und Fadenwürmern ist es bereits gelungen, die Lebensspanne durch Züchtung und gezielte genetische Veränderungen um etwa 50 Prozent zu verlängern. Forscher der Firma Geron erhöhten dazu in kultivierten Zellen die Aktivität des Enzyms Telomerase. Es verhindert, dass sich die Chromosomen mit jeder Zellteilung ein wenig verkürzen. Während die genetisch veränderten Zellen nach 220 Teilungen noch keine Spuren des Alterns erkennen ließen, starben unveränderte Zellen bereits nach etwa 85 Zellteilungen. Insider sind sicher, dass die Geron-Forscher bereits Mäuse oder Ratten mit überaktiven Telomerasegenen ausgestattet haben und erwarten deren Erfolgsbericht in naher Zukunft.
 
Geradezu radikalutopisch sind die Vorstellungen des US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Walter Isaacson. Er sagt voraus, dass Hirnforscher zum Ende des 21. Jahrhunderts über die technischen Möglichkeiten und Verfahren verfügen werden, die Verbindungen zwischen den etwa 10 Milliarden Nervenzellen des menschlichen Denkorgans zu kartieren. Mit diesem Wissen werde man künstliche Intelligenzen schaffen können, deren Denken und bewusstes Erleben von dem eines Menschen nicht mehr zu unterscheiden sei. Schließlich, so prognostiziert der US-amerikanische Computerwissenschaftler Marvin Minsky, werde es sogar gelingen, unseren Verstand auf eine Maschine zu übertragen und ihn dadurch praktisch unsterblich zu machen. Zumindest für den fantasiebegabten Minsky wäre mit solch einem Dasein die höchste menschliche Entwicklungsstufe erreicht.
 
Dipl.-Biol. Michael Simm
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Medizin: Die Biotechnik eröffnet neue Wege
 
 
Ärzte, Technik, Patienten, bearbeitet von Annette Bopp u. a. Hamburg 1991.
 
Gesundheitsbericht für Deutschland. Ergebnis eines Forschungsvorhabens. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt. Stuttgart 1998.
 Wilmut, Ian: Klonen für medizinische Zwecke, in: Spektrum der Wissenschaft, Ausgabe April 1999. S. 34—40.

Universal-Lexikon. 2012.

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